Arbeitstitel: Das Land
Die Suche nach dem Paradies wird Marie zum Verhängnis, denn sie landet unfreiwillig in einem Land, über das die Weltöffentlichkeit schweigt.
Hundert Augen, zweihundert oder mehr. Sie blickten mich an. Die Augen leuchteten, wie fluoreszierende Knöpfe. Sie kamen näher, auf mich zugeschossen. Doch blitzartig drehten sich alle Augen
synchron von mir ab. Wie blankpolierte Messerklingen schimmerte es vorne, hinter und neben mir. Ich versuchte, nicht zu atmen und mich komplett still zu verhalten. Zum Greifen nahe waren sie um mich
herum. Nur wenige Armlängen von mir entfernt.
Ich bewegte, nur kurz, meinen Fuß zur Seite und schon war alles vorbei. Der Fischschwarm wandte sich augenblicklich ab und formierte sich in einiger Entfernung neu.
Wow! Ich war mitten im Schwarm gewesen, zwischen tausenden von Barrakudas!
Ich griff nach der Druckluftanzeige. Der Finimeter zeigte an, dass die Pressluftflasche halb leer war. Ich drehte mich nochmals kopfüber nach unten und ließ mich sinken. Schwerelos. Im All musste es
so ähnlich sein. Ich genoss dieses Gefühl. Zu Schweben, während die Gedankenmühle in meinen Kopf stillstand.
Ich sah hoch zur Wasseroberfläche. Meine Atemluft stieg wie Sektperlen nach oben. Die Luftblasen blubberten hinauf und wurden dabei immer größer. Das einfallende Sonnenlicht reflektierte sich darin.
Schimmerte wie Kristalle, bevor sie sich auflösten, zerplatzten oder miteinander verschmolzen. Ich sah ihnen hinterher und nahm einen tiefen Atemzug. Ich war hier abgetaucht in einen anderen Kosmos,
voll mit Fischen und Farben. Wie aufgestellte Blätter tummelten sich blaugelb gestreifte Falterfische in den Weichkorallen. Form und Farben waren bizarr, unterschieden sich so sehr von unserer Welt
da oben. Und es war still, geradezu friedvoll. Nur das Geräusch der einströmenden Atemluft und das Geblubber beim Ausatmen durchbrach die Ruhe.
Erschrocken drehte ich mich um. War ich mit meiner Flosse irgendwo hängengeblieben? Es war Laura, die daran zog. Sie machte ein Handzeichen zum Auftauchen. Schade, die Zeit war um. Ich quittierte mit
einem Okay und unser Aufstieg begann.
Ich Marie Torres hatte mir, mit meinen sechsundzwanzig Jahren, endlich einen Traum erfüllt: Drei Monate im Paradies! Für mich war dieser Ort Südostasien. Mein Bruder Felix nannte diese Reise eine
Flucht. Ja, vielleicht hatte Felix recht. Wenn es eine Flucht war, dann vor meinen eigenen Leben. Alles, was ich bisher gemacht hatte, war so vernünftig gewesen. Meine Ausbildung, mein Beruf, meine
Finanzen, meine Wohnung, mein Auto und meine Beziehungen. Wo war der Wind in meinem Haar, der mich daran erinnerte, dass ich lebte? Wo war er? Irgendwo musste er sein.
Ob ich ihn hier in meinen Urlaub spüren würde, wusste ich nicht. Aber immerhin waren es drei Monate ohne Verpflichtungen, ohne Stress und ohne konkreten Plan. In Ländern, wo die Landschaft noch jener
aus dem Garten Eden glich. Sandstrände, Inseln und üppiges Grün. Wo das Meer so blau wie der Himmel war.
Alle Inhalte, insbesondere Texte, sind urheberrechtlich geschützt.